Hochqualifizierte verlassen das Land, Ungelernte wandern zu
Auf längere Sicht wird der ungebremste Braindrain für Österreich zu einem noch grösseren Problem führen als die Folgekosten der Hypo Alpe Adria. Hier wie dort liegt der Fehler im System. Eine Trendwende ist nicht absehbar – gründliche Reformen tun not.
Während Österreichs rot-schwarze Regierung mit peinlichen Tricks verhindern will, dass ihr Versagen bzw. ihre Mitschuld am grössten Bankenskandal der Zweiten Republik untersucht wird, geht vor ihren Augen ein gewichtiger Teil der Zukunftschancen des Landes verloren. Denn Österreich leidet seit Jahren unter einem massiven Braindrain, übertrifft doch die Zahl der abwandernden Hochqualifizierten jene der Zu- oder Rückwanderer um bis zu 10 000 Personen pro Jahr. Ausserdem ist ein Zustrom von 30 000 vorwiegend ungelernten ausländischen Arbeitskräften pro Jahr zu verzeichnen, was den gravierenden «Mis-Match» (steigende Arbeitslosigkeit bei wachsender Zahl an Erwerbstätigen) verschärft. Ein zusätzlicher Malus für die am Facharbeitermangel leidende Wirtschaft liegt darin, dass die Anwerbung qualifizierter Beschäftigter via Rot-Weiss-Rot-Card kaum Erfolge zeitigt.

Gut gemeint ist zu wenig

Beruhte das Ausmass des Braindrain bisher auf Schätzungen, so bringt Statistik Austria mit der Verknüpfung von Bildungs-Register und Wanderungsstatistik Licht ins Dunkel. Demnach sind in der letzten Dekade im Schnitt 20 000 bis 25 000 Österreicher p. a. weggezogen – Zielländer sind vorrangig Deutschland, die Schweiz, Nordamerika und Grossbritannien. Dem stehen p. a. 15 000 Rückkehrer gegenüber. Der Grossteil der Abwanderer ist 25 bis 35 Jahre alt und verfügt über hohe Qualifikationen; eine zweite Gruppe sind Facharbeiter im Alter zwischen 40 und 45 Jahren. Fachlich gesehen zieht es vor allem dringend benötigte Absolventen naturwissenschaftlicher Studien ins Ausland.

Was den Rektor der Universität Wien, Heinz Engl, in einer Medienorientierung zum fatalistischen Schluss verleitete, dass Österreichs Unis zwar gutes Personal für den internationalen Wissenschaftsbetrieb lieferten, doch zu wenig Anreize für Rückkehrwillige böten. Dass die Republikflucht so vieler Absolventen auf Fehlentwicklungen im System beruht, bestätigen Daten über ausländische Studierende in Österreich. Nicht einmal ein Fünftel der Absolventen beantragt nach Ende des Studiums eine Aufenthaltserlaubnis. Sie wissen wohl, warum: Von 1700 Graduierten aus Drittstaaten erhielten 2013 bloss 214 Absolventen eine Rot-Weiss-Rot-Card.

Fehlende Freiräume

Hier hakt der CEO der Voestalpine, Wolfgang Eder, ein, der fast als einziger Konzernmanager den Kampf um bessere Standortbedingungen führt. Laut Eder ist die als Kompromiss der Sozialpartner entstandene Rot-Weiss-Rot-Card zwar gut gemeint, doch in der Handhabung demotivierend, vor allem was Aufwand und Administration betreffe. International mobile Leute, denen Effizienz wichtig ist, so Eder, würden ungern «sieben Mal zum gleichen Schalter gehen müssen». Was den Braindrain betrifft, sieht Eder vor allem die hohe steuerliche Belastung als Problem. Junge, gut ausgebildete Leute hätten gerne Freiräume; wenn sie aber Lohnnebenkosten und Regulierungen in Österreich betrachteten, zögen sie wohl Katar, Singapur oder Bratislava vor.

Weshalb Eder auch Rektor Engls österreichischen Traum einer verstärkten «brain circulation» für Wunschdenken hält. Anderswo Erfahrungen zu sammeln, dann aber nach Österreich zurückzukehren, klinge zwar gut, setze aber attraktive Karrieremodelle an den Unis und entsprechende finanzielle Mittel voraus. Bei Verhandlungen über eine Berufung nach Österreich spielten neben der Ausstattung von Labor und Lehrstuhl die Verdienstmöglichkeiten eine wesentliche Rolle. Da aber tue sich ein Hochsteuerland schwer. Wie Eder weiss. Bei Kandidaten etwa aus Deutschland oder den USA wesentlich höhere Bruttogehälter bieten, damit die Kandidaten netto einigermassen gleich viel wie an ausländischen Konkurrenz-Unis verdienen würden.

Diese Aussagen wurden bei einer von der Schweizerischen Botschaft und der Denkfabrik Agenda Austria veranstalteten Diskussion bestätigt. Der Leiter des Institutes für Höhere Studien (IHS) und Professor an der Uni St. Gallen, Christian Keuschnigg, sieht in der besseren Ausstattung und in den höheren Gehältern den Hauptgrund dafür, dass Schweizer Hochschulen wesentlich attraktiver für Hochqualifizierte sind als österreichische. Damit könnten Spitzenforscher zugekauft werden, was die Universitäten noch interessanter mache. Österreich, so Agenda-Austria-Geschäftsführer Franz Schellhorn, werbe viel zu wenig um die besten Köpfe; eigentlich wolle das offizielle Österreich (gemeint ist da wohl die «linke Reichshälfte») gar keine Hochqualifizierten. Junge Absolventen mit international verwertbarer Ausbildung verliessen das Land nicht zuletzt wegen der demografischen Schieflage und des fehlenden Muts zu Reformen, so Schellhorn.

Ein vom Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung (Wifo) geleitetes EU-Forschungsprojekt stützt die These der geringen Attraktivität als Forschungsstandort. 10 000 Forscher weltweit wurden befragt, welche Faktoren bei der Arbeitsplatzwahl eine Rolle spielten. Für Nachwuchsforscher sind – in dieser Reihenfolge – Qualität der Fachkollegen, Autonomie bei der Arbeit, Gehalt und Verfügbarkeit von Drittmitteln entscheidend. Arrivierte Wissenschafter reihen Qualität potenzieller Kollegen vor Gehaltsniveau und Verfügbarkeit von Drittmitteln ein. Unter elf Ländern wurden die USA als bester Standort für Forscher ermittelt, es folgen Länder mit forschungsstarken Unis (Niederlande, Schweden, Grossbritannien und Schweiz); Österreich bildet mit Deutschland und Frankreich das untere Mittelfeld, am wenigsten attraktiv sind Italien, Spanien und Polen.

Laufrichtung ändern

Wer sich das Regierungsprogramm vom Dezember 2013 ansieht, dem kommen Zweifel, dass der Braindrain gestoppt oder gar umgekehrt werden kann. Die Koalition glaubt, mit kosmetischen Massnahmen auszukommen. Doch ohne drastische Einschnitte, ohne eine Reform an Kopf und Gliedern, wird es nicht gehen, ist mittlerweile doch zu viel Sand im Getriebe: Das leistungsfeindliche Steuersystem, der hinter der Phrase «soziale Gerechtigkeit» versteckte Hang zur Gleichmacherei (Verteilungs- statt Leistungs- und Chancengerechtigkeit), die anhaltende Erosion von Freiheitsrechten und Selbstverantwortung, überbordende Regulierungswut bei fehlendem Reformmut.

Aus dem Braindrain kann nur dann ein Braingain werden, wenn das System die alte Dynamik wieder gewinnt. Das setzt voraus, dass Rahmenbedingungen wieder langfristig verbindlich sind, Planbarkeit gegeben ist – statt klientelistischer Machtkämpfe unter Kammern und Parteien.

Originalbeitrag in: Neue Zürcher Zeitung